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Wohnkultur des Rokoko: Stralsunder Fayencen

Verspielte, farbenfrohe Esskultur im Norden? Appetitliche Präsentation von Alltäglichem? Das gab es bereits während der Schwedenzeit und damit lange vor Erfindung des Nordic Design.

Zukünftig werden die schönsten Stücke der Sammlung von Stralsunder Fayencen in der neuen Dauerausstellung im Katharinenkloster ausgestellt.

Ein Rebhuhn, ein Bär, ein Marienkäfer, ein Schmetterling, eine Artischocke, Rosenstöcke, Engelchen, eine barbusige Dame – dies sind nur einige der Motive, die auf Stralsunder Fayencen zu sehen sind.

Fayence (nach der italienischen Stadt Faenza), das ist etwas vereinfacht der Begriff für ein Tongefäß, das weiß glasiert wurde und so tut, als sei es kostbares chinesisches Porzellan. Dieses Luxusgut war für die meisten Menschen jedoch unerschwinglich. In vielen europäischen Ländern gab es Fayencewerkstätten, die frühesten im Italien des 15. Jahrhunderts, der Zeit der Renaissance. Damals wurden Fayencen noch als Majolika (nach  Mallorca) bezeichnet. Mit der Gründung von Manufakturen – also vorindustriellen Produktionsstätten zur Herstellung größerer Warenmengen durch auf einen Teilprozess spezialisierte Handwerker – wurden auch Fayencen in Manufakturen hergestellt, zuerst in Frankreich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Entlang der Nord- und Ostsee gab es zum Beispiel in der Republik der Sieben Vereinigten Niederlande (Delft), im Herzogtum Schleswig (Eckernförde), im Herzogtum Holstein (Kiel), im Königreich Dänemark (Kopenhagen) und im Königreich Schweden (Stockholm) solche Fayencemanufakturen.

In Stralsund wird 1755 die erste Fayencemanufaktur vom Rat der Stadt zugelassen. Der Stralsunder Kaufmann Joachim Ulrich Giese (1719–1780) betreibt sie in der Tribseer Straße. Auf der vor Stralsund gelegenen Ostseeinsel Hiddensee, die Giese gehört, wird der Ton abgebaut, der für die Herstellung der Keramik erforderlich ist. Auf Eseln wird er abtransportiert, in Kloster bearbeitet und auf dem Seeweg nach Stralsund gebracht. 1767 übernimmt der aus Frankfurt am Main stammende Unternehmer Johann Eberhard Ludwig Ehrenreich (1723–1803) die Manufaktur. Zuvor Zahnarzt des schwedischen Königs, dann Leiter der schwedischen Manufaktur Marieberg nahe Stockholm, bringt er von dort rund vierzig schwedische Arbeiter – Dreher, Former, Maler und Brenner mit ihren Frauen und Kindern – mit. Aufgrund dieses Transfers des Handwerkerwissens ähneln sich die Fayencen aus Schweden und Stralsund sehr. 1769 wird die Fayencemanufaktur mit 77 Angestellten das größte Unternehmen der Stadt Stralsund und die größte Keramikmanufaktur im Ostseeraum. Sie besteht bis 1792.

Essgeschirr wie Teller, Terrinen oder Brotkörbe, Wandfliesen, Schreibzeug, Uhrenhalter und noch vieles mehr wurde als Fayence hergestellt.

Stralsunder Fayencen in vielfältigen Formen und Farben mit unterschiedlichsten Funktionen im Haushalt.

Alle Vöglein sind schon da

Sehen wir uns einmal an, was für Vögel auf erhaltenen Wandfliesen zu finden sind:

Da ist zum Beispiel ein Wiedehopf abgebildet, ein zur Schwedenzeit in Mitteleuropa verbreiteter Brutvogel, der etwa so groß wie eine Drossel ist und eine charakteristische Federhaube trägt, oben mit orange-bräunlichen, ab der Bauchmitte mit schwarz-weiß gestreiften Federn sowie einem langen, nach unten gebogenen Schnabel. Aufgrund seines Rufes – "up" und "pu" – hat er vom schwedischen Naturforscher Carl von Linné (1707–1758) in dessen Hauptwerk Systema Naturæ (10. Auflage 1758), in dem alle bekannten Tiere, Pflanzen und Mineralien vorgestellt werden, den lustigen lateinischen Namen Upupa epops erhalten, das ist der wissenschaftliche Gattungsname. Ein bisschen hört sich sein Ruf an wie der eines Kuckucks.

 

Vorlagen aus zeitgenössischen Naturhistorien

Die Stralsunder Fayencemaler begaben sich nicht nur selbst auf die Suche nach Motiven für ihre Keramiken, sondern griffen auch auf Vorlagen aus Büchern zurück. Dies war spätestens seit dem Spätmittelalter und der weiten Verbreitung mit Beginn des Buchdrucks ein üblicher Weg, um antike und christliche Motive, Ornamente oder Personen und Tiere zu studieren. Zuvor waren die Künstler zu Bildern in anderen Städten gereist oder ließen die Bilder zum Beispiel in Musterbüchern selbst reisen, um sich inspirieren zu lassen. Das Studium der Natur, von Flora und Fauna, wurde seit der Renaissance wichtig.

Ein Wiedehopf auf einer Wandfliese aus der Stralsunder Fayencemanufaktur. 

 

Die Vorlage stammt aus Georg Heinrich Borowskis Gemeinnüzziger Naturgeschichte des Thierreichs, Band 2, der 1780 in Berlin und Stralsund erschien.

Die Herkunft der Vogelmotive auf den in Stralsund hergestellten Wandfliesen konnte 1991 von der Kunsthistorikerin Gesine Schulz-Berlekamp identifiziert werden: Die meisten Vögel sind auch in Georg Heinrich Borowskis fünfbändigem Werk Gemeinnüzzige Naturgeschichte des Thierreichs zu finden, das ab 1780 in Berlin und Stralsund erschien.[1]


Borowski (1746–1801) war Professor für Naturgeschichte an der Brandenburgischen Universität in Frankfurt an der Oder (heute: Viadrina). Zu jedem Thema (Tierklassen) erschien ein Band mit Abbildungen und einer mit Texten. In zweiten Band (Bild), Natürliche Abbildungen der merkwürdigsten säugenden oder vierfüssigen Thiere nach ihren Geschlechtern (1780), ist auch der Wiedehopf abgebildet. Seine Beschreibung folgt dann 1781 im zweiten Band (Text), Wallfische und Vögel. Dort ist zuletzt vermerkt: "Jn Jtalien wird er gegessen und soll schmakhaft sein."

 

Des einen Freud', des anderen Leid' ...

Die Erforschung der Tierwelt ging im 18. Jahrhundert oftmals mit deren Tötung einher: Naturforscher wie Linné sammelten auf ihren Expeditionsreisen alle Tierarten, die sie finden konnten: Diese wurden zum Beispiel aufgespießt (wie Schmetterlinge) oder ausgestopft (wie Vögel). Auch Pflanzen wurden in großem Stil gesammelt und in Botanisiertrommeln gesteckt, die die Forscher bei sich trugen.

 

Unter dem Deckel der hier oben auf der Seite gezeigten Terrine mit Rebhuhn lag ein gegartes Rebhuhn, das noch alle Federn besaß und erst am Tisch gerupft und ausgenommen wurde. Heute kann man sich viele der damals weltweit von den Naturforschern eingesammelten Tiere in Naturkundemuseen wie dem Museum für Naturkunde in Berlin ansehen. Einige bereits ausgestorbene Arten wären dem Mensch sonst nicht mehr bekannt.

 

[1] Gesine Schulz-Berlekamp: Stralsunder Fayencen 1755–1792. Berlin 1991.